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Marcel Kittel hat eine Transformation durchlaufen. In den Nachwuchsklassen war er Zeitfahrspezialist, 2005 und 2006 gar Junioren-Weltmeister im Zeitfahren. Erst bei den Profis wurde er zum Sprinter. Gegenwärtig ist er der wohl schnellste Mann im Profi-Peloton.
Der Sprint gehört zum Radsport genau wie die Bergetappe. In Profi- wie Hobbyrennen kämpfen oft die Mitglieder einer kleinen Ausreißergruppe um den Sieg – oder eben das gesamte Feld im Sprint Royal. Im gemeinsamen Training mit anderen bieten oft die wohlbekannten „Ortsschildsprints“ den größten Spaßfaktor. Doch wie trainiert man seine Sprintfähigkeiten, seine Schnelligkeit? Radsporttrainer Dennis Sandig zeigt am Beispiel des Radprofis Ralf Matzka vom Team Bora-Argon 18, dass das Training eines Sprinters weit mehr ist als reines Sprinttraining.
Trainingsdilemma
Vor jedem Sprint kommt erst einmal die Arbeit. Wer bereits am Berg oder auf den langen Windkantenstücken abgehängt wurde, muss nicht mehr schnell sprinten können, denn das Rennen ist dann gelaufen. Neben der reinen Sprint- und Schnelligkeitsübung muss das Training also auch auf viele verschiedene Fähigkeiten abzielen. Hier wird es kompliziert, denn: Große Umfänge im Ausdauertraining können eine negative Auswirkung auf die Schnelligkeit haben. Die Sprintschnelligkeit ist in hohem Maße vom Anteil schnell zuckender Muskelfasern abhängig. Ausdauertraining kann dazu führen, dass sich spezifische, die sogenannten Intermediärfasern, zu langsam zuckenden Fasern entwickeln – was gut für die Ausdauer, aber schlecht für die Schnelligkeit ist. Die Entwicklung der Intermediär- hin zu schnellzuckenden Fasern ist nur sehr begrenzt möglich. Allerdings haben neuen Studien gezeigt, dass spezielle, intensive Trainingsformen eine solche Tendenz fördern können.
Generell bleibt zu sagen, dass sich im Radsport ein Dilemma auftut: Denn auf der einen Seite muss man ausreichendes Grundlagenausdauertraining betreiben, um harte Rennen und Trainingseinheiten zu „überstehen“ und auf der Zielgeraden anzukommen. Auf der anderen Seite kann jenes Ausdauertraining die Schnelligkeit und damit die Siegchancen in einem Sprint verringern. Hier gilt es, die richtige Balance zu finden.
Der Faktor Alter
Immer wieder gibt es Beispiele für Radprofis, die sich im Laufe ihrer Karrieren vom reinen Sprinter zum Klassikerfahrer gewandelt haben. Dass ein Fahrer an Schnelligkeit verliert, muss nicht immer am Alter liegen. Dafür können auch die teils sehr großen Trainingsumfänge verantwortlich sein. Doch diesen Effekten kann man entgegenwirken: mit speziellem Sprinttraining. Ralf Matzka gehört mit 25 Jahren noch zu den jungen Radprofis. Er war Junioren-Europameister im Madison auf der Bahn. Heute ist er auf Sprints und Klassiker spezialisiert.
Der Formaufbau
Wer glaubt, dass der größte Teil der Vorbereitung im Winter aus langen, ausdauerbetonten Fahrten bestehen darf, der irrt. Wer jedoch zu stark auf die Karte Intensität setzt, der riskiert eine erhöhte Infektanfälligkeit, Regenerationsprobleme und möglicherweise sogar ein Überlastungssyndrom. Bei der Zusammensetzung des Trainings kommt es darauf an, individuelle Fähigkeiten gezielt auszubauen und zu stärken. Ralf macht dazu regelmäßig eine Spiroergometrie, um zu sehen, wie die Wirkung des Intervalltrainings anschlägt und ob die Schwerpunkte weiter in kurzen oder langen Intervallen liegen müssen. Sprinttraining ist also immer individuell. In meiner Arbeit als Trainer gab es sogar einen Fall von zwei Sprintern aus einem Team, die das genaue Gegenteil in ihrem Training brauchten, um ihre optimale Form zu entwickeln. Während der eine Athlet etwa 90 Prozent seines Trainings im Grundlagenausdauerbereich trainierte und nur zehn Prozent Sprint- und Intervalltraining einbaute, musste der andere diesem Bereich rund 25 Prozent seines gesamten Trainingsumfangs widmen.
Die Sprints
Um die Schnelligkeit zu steigern und in Sprintform zu kommen, setzen wir bei Ralf auf eine variable Strategie, die sich immer auch an den aktuellen Rennen orientiert. Nur so konnte er bei extrem langen Klassikern wie der Flandernrundfahrt und Paris-Roubaix starke Leistungen abliefern ohne allzu große Defizite in der Endschnelligkeit zu erleiden. Da sein Team mit Sam Bennett einen Topsprinter in den eigenen Reihen hat, ist Ralf beim Anfahren und Vorbereiten stets auf hohe Beschleunigungswerte angewiesen. Im Training müssen deshalb sehr kurze Sprintantritte ebenso eine Rolle spielen wie längere Sprints über 30 Sekunden und solche aus sehr hohen Geschwindigkeiten. Dabei kann man als Trainer nicht immer nur auf bekannte Trainingsmethoden zurückgreifen, sondern muss auch neue Wege gehen. Aktuell experimentieren wir im Training mit einem Leistungsmesser und verschiedenen Fallschirm- und Bremssystemen am Rad. Auch Maßnahmen wie „Luft anhalten“ und Bergsprints sind interessante Ansätze, mit denen wir hin und wieder arbeiten. Zudem setzen wir saisonübergreifend wiederholt einzelne Trainingsreize im Kraftraum. Vor allem mit der freien Kniebeuge.
Trainingskontrolle
Für regelmäßiges Intervalltraining ist ein Powermeter optimal. Damit sieht man sofort die Höhe der tatsächlichen Belastung. Im Sprinttraining ist es extrem wichtig, ausgeruht sehr intensive Reize zu setzen. Nur so kann der optimale Übertrag erreicht werden.
Ralf muss zudem von Sprint zu Sprint und von Intervallserie zu Intervallserie abschätzen können, ob er vielleicht schon zu stark ermüdet ist. Er kann also anhand eines möglichen Leistungsabfalls erkennen, ob eine weitere Wiederholung oder gar eine weitere Serie überhaupt sinnvoll sind. Die neuste Generation der Leistungsmesser, etwa Garmin Vector 2 oder InfoCrank von Verve, können auch aufzeigen, in welchem Bereich der Kurbelumdrehung die höchste Leistung erreicht wurde und wie effektiv die Kraftübertragung funktioniert. Motivierender und auch einfacher ist der Leistungsvergleich mit anderen.
Ob Ortsschilder oder Bäume auf Hügelkuppen - in der Gruppe gibt es stets Gründe für ein kurzes Beschleunigungsrennen. Kleine Sprints unter Freunden. |||||
Schlüssel - Intervalle
1.) 30-Sekunden-Sprints aus voller Fahrt
Beschleunigen Sie auf eine hohe Geschwindigkeit - beispielsweise in der Gruppe. Fahren Sie dann aus dem Windschatten heraus einen Sprint mit der maximal möglichen Geschwindigkeit. Versuchen Sie, die Leistung über 30 Sekunden möglichst hoch zu halten.
2.) Sechs-Sekunden-Antritt
Fahren Sie einen Antritt mit dem dicksten Gang fast aus dem Stand heraus. Beschleunigen Sie für sechs Sekunden so hoch wie möglich!
Der Autor
Dennis Sandig ist Sportwissenschaftler und arbeitet am iQ athletik- Institut zur Trainingsoptimierung für Sport und Gesundheit. Er ist Trainer des Teams Stuttgart und von Profis wie Björn Thurau und Ralf Matzka (Bild unten) vom Team Bora-Argon 18.